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Ein persönlicher Rückblick

Mein Camino de Santiago ist vorüber. Ich bin ohne große Erwartungen nach Porto gereist. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie es werden wird. Ob es mir gefällt. Ob ich Leute treffen werde. Und was sonst noch passiert. Ich plane in ca. einem Jahr ein halbes Jahr Auszeit zu nehmen. Der Camino war auch eine Art Test für mich, da ich bisher noch nicht allein gereist war und richtigen Backpack-Urlaub auch noch nicht gemacht habe. Dafür bot sich der als Einsteiger-Camino gepriesene Camino Portugues an.

In diesen zwei Wochen lag mein Geburtstag und auch Herrentag (oder Vatertag oder Christi Himmelfahrt). Zwei Ereignisse, die ich üblicherweise mit Freunden und viel Bier feiere. Als ich mich für den Camino Portugues entschied, entschied ich mich auch, diese zwei Ereignisse in diesem Jahr anders zu begehen. Viel ruhiger. Vielleicht auch allein. Das war für ich okay, da ich meine Freunde danach alle wiedersehen würde und man zum Beispiel den Geburtstag auch nachfeiern konnte. Aufgrund der Kurzfristigkeit meiner Entscheidung für den Camino Portugues gab es außerdem keinen anderen Zeitraum, um ihn relativ zeitnah zu gehen. Und das wollte ich. Also sollte es wohl auch so sein.

Ich hatte mir Pläne über die einzelnen Etappen gemacht. Ansonsten hatte ich mir aus dem Internet Packlisten angeschaut. Und ja - ich habe auch die 10%-Regel bezüglich des Gepäcks gelesen. Habe sie mit „Da schaffe ich sicher mehr“ abgetan und Lehrgeld bezahlt. Ich habe insgesamt viel in den zwei Wochen gelernt. Auch praktische Sachen. Was man beispielsweise wirklich unterwegs benötigt und was man völlig umsonst mitgeschleppt hat. Mit Blick auf mein nächstes Jahr eine sehr gute Erfahrung.

Aber viel wichtiger als diese praktischen Sachen waren für mich die Sachen, die ich spirituell mitgenommen habe. Jeder bekommt seinen ganz eigenen Camino - sagt man. Und das Schöne daran ist, dass man die Erlebnisse, Begegnungen und Erfahrungen auch ganz persönlich deuten kann. Ich mag die Sicht, dass alles genau so passieren musste, damit ich jetzt - hier im Flugzeug - exakt das fühlen kann, was ich fühle. Ich fühle eine große Bereicherung, ein großes Glück und viel Dankbarkeit. Rückblickend ergab alles Sinn. Jede Begegnung, jede bewusste Entscheidung und jede unvorhergesehene Wendung. Öfter mal zurückzublicken ist eine der Lehren, die ich auf dem Camino gelernt habe. Von Jasmin. Kurz nachdem wir uns trafen und uns darüber austauschten, ob uns der Camino bisher etwas gelehrt hatte. Wenn man ab und zu bewusst zurückblickte, sah man ganz andere und schöne Perspektiven. Das galt sowohl für den Weg und die Bilder, die man dadurch wahrnahm, als auch darüber hinaus. 

Wenn ich jetzt zurückblicke, begann alles mit der Begegnung mit Karen. Durch sie wurde mir bewusst, dass ich viel zu viel Gepäck mit mir führte. Hätte ich sie nicht noch vor dem Start getroffen, wäre ich mit meinen 16 Kilo wahrscheinlich losgegangen. Jetzt am Flughafen waren es alles zusammen gut 20 Kilogramm - mit Stiefel. Mit diesem Gewicht wäre ich sicher nicht weit gekommen.

Dann trafen wir gemeinsam Alex. Sie gab mir den Tip, wegen meiner Blasen doch bis Valenca vorzufahren. Darauf war ich in dem Moment nicht gekommen und dachte eigentlich schon darüber nach aufzugeben und nach Porto zurück zu fahren. Doch was sollte ich dort bis zu meinem Rückflug am heutigen Tag machen? Also fuhr ich nach Valenca. Als ich am nächsten Morgen losging und noch kurz in der Kirche stand, spürte ich auf einmal ein besonderes Gefühl. Von diesem Moment an glaubte ich irgendwie, dass ich nicht allein bin, sondern begleitet werde. Es war ein schönes Gefühl und es gab mir Sicherheit und Zuversicht. Und im Folgenden gab es immer wieder Momente, wo ich diese Begleitung spürte. Sie führte mich zu Personen, die mir guttaten und mir auf dem Weg halfen. Vielleicht führte sie mich auch zu Personen, denen ich unbewusst half. Ich glaube, dass dies ein Geben und Nehmen ist, ohne dass man es bewusst wahrnimmt.

Zusammen mit Karen und Alex trafen wir auf Sven. Es passte sofort zwischen uns. Es war ein toller Abend auf dem Campingplatz. Ich traf Bogdan und ging eine ganze Etappe mit ihm. Ich hörte von seinem Wanderstock. Ich begegnete Eelke und kam so in den Genuss des Weges am Fluss nach Pontevedra. Ohne sie hätte ich mich aufgrund meiner schmerzenden Füße sicher für die Straße entschieden. Gemeinsam sprachen wir über die neuen Möglichkeiten, die jeder einzelne Morgen einem bietet. Dann hielt ich auch mal inne - wie in Pontevedra. Dort traf ich die Jungs von Los Ladridos - die den Bassy-Club aus Berlin kennen, mit dem ich ebenfalls tolle Erinnerungen aus meiner Anfangszeit in Berlin verbinde. Ich aß sehr gute Kroketten in Everaldo's Croquetria "El Crack".

Überall ergaben sich interessante Gespräche und ich hörte so viele verschiedene Versionen, sein Leben zu leben. Das ist es, was ich von hier insbesondere mitnehme. Sein eigenes Leben zu leben und den eigenen Weg dafür zu finden. Ich verglich mein Leben bis vor Kurzem oft mit Lebensversionen von Freunden und Bekannten. Doch das machte mich unglücklich. Langsam erkenne ich, dass mein Leben ein ganz eigenes ist. Keine besondere Erkenntnis. Und irgendwie doch. Denn ich spüre Glück, wenn ich sie mir bewusstmache. Weil mir dann nichts fehlt, was ich wahrscheinlich gar nicht brauche, um glücklich zu sein. Vermutlich besteht die Kunst zum Glück darin, diesen eigenen Weg des Lebens zu finden und ihn zu gehen. Versuchungen und Ablenkungen am Rande dieses Weges gibt es viele. Auch die Gesellschaft baut breite und vorgefertigte Straßen, die einen scheinbar leichter vorankommen lassen. Dabei wird es schwer, den eigenen Weg nicht aus den Augen zu verlieren und ihn zu gehen, auch wenn er von der guten Straße abweicht und steiniger wird. Am Ende - so glaube ich - führt aber nur der eigene Weg zum eigenen Glück.

Ich traf auf Antje und Jasmin. Wir verbrachten viel Zeit zusammen. Wir lachten viel und es war irgendwie sofort eine Verbindung da. Ich entschied mich, mit ihnen weiter zu gehen - über mein eigentliches Tagesziel hinaus. So kam ich einerseits viel schneller voran und traf andererseits auch auf Tom und Leila aus Kanada. Auch seine Geschichte war irgendwie besonders. Seine Posttaschen, in denen er sein Leben lang die Briefe anderer Menschen transportierte und nun zum ersten Mal seine eigenen Sachen trug.

Durch die langen Etappen mit Antje und Jasmin war ich plötzlich am Tag vor meinem Geburtstag kurz vor Santiago. Dann schrieb Alex, dass sie in der Nähe ist und in einem Kloster schlafen wird. Das passte sofort. Alex wiedersehen. Letzte Nacht in einem Kloster. Zum Geburtstag in Santiago sein. Und vermutlich auch allein ankommen, da ich mich von Antje und Jasmin dafür trennen musste. Ich wollte in diesen Moment, wenn ich in Santiago ankomme, auch irgendwie allein sein. Ich war schließlich allein in Berlin aufgebrochen. Doch er war nicht so besonders, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

In Santiago traf ich ebenfalls viele interessante Menschen und hatte besondere Momente. Zum Beispiel saß ich an meinem Geburtstag mit Leuten zusammen, die ich zwei Wochen vorher nicht kannte. Es war ein schöner und auch besonderer Abend. Denn beschenkt wurde an dem Tag neben mir auch ein kleiner Junge. Antje schenkte ihm spontan zwei Freikarten für ein Karussell. Seine Freude und Dankbarkeit war so echt und groß - als hätte er auch gerade Geburtstag.

An dem Abend traf ich Adrian und Xabi. Sie zeigten mir wieder eine andere Variante des Lebens. Das wäre sicher nicht mein Leben - da brauche ich doch mehr Sicherheit und Komfort. Sonst wäre ich wohl kaum Beamter. Aber es ist interessant, auch ein kleines Stück über diese Version zu erfahren. Auch Marco ließ mich ein Stück in dieses Vagabundenleben blicken. Es war schön zu sehen, wie offen einem Menschen begegnen, wenn man auch einfach nur offen auf sie zutritt. So hatte ich noch einen ganz besonderen Geburtstagsabend.

Wenn ich das alles nochmal revue passieren lasse, bestärkt mich mein Glaube daran, dass ich begleitet und beschützt wurde. Das mir in wichtigen Momenten Hilfe und Unterstützung zuteilwurde - durch Begegnungen und andere Umstände. Auch Sachen, die im ersten Moment schlecht und schmerzhaft erschienen. Wie beispielsweise meine Blasen. Doch ohne diese Blasen wäre ich nicht nach Valenca vorgefahren - hätte nicht zu meinem Geburtstag im Kloster übernachtet und auch nicht Finsterra gesehen, da ich keine Zeit dafür gehabt hätte.

Also selbst die anfänglich schlechten Dinge bewirkten am Ende viel Gutes.

Natürlich kann man auch nicht an diese „Begleitung“ glauben und all die Ereignisse als Zufälle werten.

Und das Taxi, welches im letzten und genau richtigen Moment den Berg hinunter fuhr und uns rechtzeitig zum Sonnenuntergang ans Ende der Welt brachte? Kann Zufall gewesen sein.

Oder, dass ich alle Leute von meinem Start - also Karen, Alex und auch Sven - irgendwie am Ziel in Santiago traf. Obwohl alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten ankamen. Natürlich wollte ich das auch und plante es - aber Sven traf ich nur, da die eigentliche Busverbindung bereits ausgebucht war. Und durch die spätere Verbindung kamen auch all die Begegnungen am letzten Tag zustande, die mir das Gefühl gaben, Santiago würde sich verabschieden.

Klar - das können alles Zufälle gewesen sein. Glaube ich aber nicht. Das ist das Gute am Glauben. Er gehört einem ganz persönlich. Man kann ihm folgen - oder nicht. Mir tut mein Glaube gut - anderen tut mein Glaube nicht weh. Allein das zählt.

Zu diesen greifbaren Momenten und Begegnungen kam stellenweise dieses Gefühl, was ich manchmal spürte. Ich spürte es nicht, als ich an meinem Geburtstag in Santiago auf dem Platz vor der Kathedrale stand. Und ich spürte es ebenfalls nicht, als ich durch die Kathedrale ging.

Doch es gab besondere Momente - in der Kirche in Valenca - im Kloster in Herbon -  beim Sonnenuntergang am Kap in Finsterra - als ich wieder zurück in Santiago war und erneut vor der Kathedrale stand und gestern - als ich noch einmal vor der Kathedrale in Porto stand und die Frau ihren Pilgerstab an die Säule lehnte und ich die anderen Drei losziehen sah. All diese Momente verbindet ein Gefühl in mir. Ein Glücksgefühl. Und dieses Gefühl kann ich weiterhin spüren, wenn ich an diese Momente zurückdenke. 

Zwischenzeitlich - ich glaube es war an meinem Geburtstag, als ich im Bett im Kloster lag - kam mir der Vergleich des Camino mit einem Leben in Zeitraffer in den Sinn. Ich tauschte mich hierzu mit Elmar und Chrissi aus und sie empfanden es ähnlich.

Ich meine, ich hatte mir Pläne für meinen Camino gemacht. Diese habe ich gleich nach dem Start verwerfen müssen. Ich war dabei aufzugeben und wurde durch Menschen, die ich getroffen hatte, auf Alternativen aufmerksam. Diese brachten mich weiter. Ich begegnete den unterschiedlichsten Leuten. Mit manchen ging ich ein längeres Stück - mit manchen nur ganz kurz - manche nervten schon, wenn sie nur in meiner Nähe gingen. Und mit einigen hoffe ich auch weiterhin in Kontakt zu bleiben. Von denen, mit den ich gegangen bin, habe ich immer etwas mitgenommen.

Ich spürte starke Schmerzen - eigentlich spürte ich ab Valenca jeden einzelnen Schritt. Zugleich hatte ich so viele schöne Momente, die die Schmerzen zeitweise vergessen ließen. Die unvergesslichen Bilder von der Atlantikküste, die grünen Wälder mit Bächen und die blühenden Wiesen - oft führten steinige Wege an diese Orte. Dazu immer das Geräusch von plätscherndem Wasser und Vogelgezwitscher. Und dann ging es auch wieder an vielbefahrenen Fernstraßen entlang. Laut, schmutzig, teilweise gefährlich. Dort spürte ich wieder meine Füße. Es gab anstrengende Momente, wenn ich beispielsweise meinen Rucksack irgendwelche Treppen oder sonstigen Steigungen hochschleppen musste - und dann das stolze Gefühl, wenn man oben war. 

Es sind Phasen und Ereignisse, die auch im richtigen Leben passieren. Die Phasen dauern dort nur  länger. Sowohl die Guten als auch die schmerzhaften. Das Schöne am Camino ist, dass ich jetzt am Ende zurückschauen kann und es alles in meinen Erinnerungen, Bildern und diesen Aufzeichnungen bleibt. Es sind unglaublich schöne Erinnerungen.

Wie das am Ende des richtigen Lebens ist, weiß niemand und jeder glaubt an seine eigene Version. Vielleicht sitzt man dann ebenfalls irgendwo und blickt irgendwie zurück. Wenn ich es dann mit einem annähernd so schönen Gefühl tue, wie ich es gerade empfinde - beim Rückblick auf meinen Camino - freue ich mich sehr auf meinen weiteren Weg...

Bom Caminho!

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